Michael Schneeberger (1949-2014)

1982 Mitbegründer ders Förderverein Ehmalige Synagoge Kitzingen a.M. und Wegbereiter für den Wiederaufbau der Synagoge

Im Oktober 2014 verstarb der jüdische Heimat- und Familienforscher Michael Schneeberger. Ihm hat die regionale Geschichts- und Erinnerungsarbeit sehr viel zu verdanken. Und er hat der Jüdischen Gemeinde seine Sammlung hinterlassen, die nun an das Johanna-Stahl-Zentrum geht.

Man hätte ihn für die Reinkarnation eines fränkischen Juden der Zeit vor der Shoa halten können. Wüsste man es nicht besser: Dass es dieses spezifische Judentum, diesen Typus eines fränkischen Landjuden nicht mehr gibt. Und dass Michael Schneeberger am 6. April 1949 als Nichtjude geboren wurde.

Und doch, seine gelebte Jüdischkeit, sein unüberhörbarer fränkischer Akzent bekräftigen dieses Bild. Er hat, nach Jahren an verschiedenen Orten und vielleicht auch Jahren einer Sinnsuche, während eines langen Israelaufenthaltes Ende der 1970er Jahre die jüdische Religion für sich als richtig erkannt und ist zum Judentum übergetreten. Der Plan, sein zukünftiges Leben in Israel zu verbringen, scheiterte jedoch an massiven gesundheitlichen Problemen. Die sollten ihn auch für den Rest seines Lebens begleiten: Alles, was er erreicht hat, musste er seinem Körper abtrotzen.

Er kehrte nach Deutschland, nach Kitzingen in Unterfranken zurück und begann hier, sein Judentum zu leben und zu gestalten. Als tief religiöses und treues Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg und Unterfranken brachte er sich in das Leben der Gemeinde ein. Zugleich begann er, sich mit den Überresten des fränkischen Judentums in seiner Region zu befassen. Seine Religion zu leben und die Spuren der jüdischen Menschen in der Region, in Unterfranken und darüber hinaus aufzudecken und den Kontakt mit den Vertriebenen herzustellen, wurde zum Mittelpunkt und zur Selbstverpflichtung seines Lebens.

 

Viele haben von seinem Engagement profitiert – doch Preise, Medaillen und Ehrungen hat Michael Schneeberger bis auf eine Ehrenurkunde des Kitzinger Fördervereins (2011) nicht erhalten. Er war zu bescheiden, um für sich und seine Arbeit zu trommeln. Und er konnte ein konsequenter, unbequemer Mahner sein, der sich nicht in den Mittelpunkt stellte oder anbiederte, um geehrt zu werden. Erst jetzt, nach seinem Tod, hat der Kitzinger Stadtrat einstimmig beschlossen, eine Gedenkplatte in der Kitzinger Synagoge zu seiner Würdigung anzubringen. Eine posthume Ehrung durch das Land Bayern zu erwarten, wäre auch nicht völlig vermessen.

Das erste große Projekt, dem sich Michael Schneeberger verschrieb, war der Kampf um den Wiederaufbau und die Neunutzung der 1938 zerstörten Synagoge vor Ort. 1982 gehörte er zu den Gründern des Fördervereins ehemalige Synagoge Kitzingen am Main e.V. und konnte nach harter politischer Überzeugungsarbeit 1993 die restaurierte Synagoge mit einweihen. Sie wird seitdem von der Stadt, der VHS und dem Verein für kulturelle Zwecke genutzt.

Ausgelöst durch den Wunsch israelischer Freunde widmete sich Schneeberger seit 1985 der jüdischen Familienforschung. Weit mehr als 500 kleinere und größere Rechercheprojekte führte er meist im Auftrag von Angehörigen oder Nachkommen durch, denen vom Ausland aus die Möglichkeiten und zunehmend die sprachlichen Kompetenzen dafür fehlten. Die Kontakte zu den Menschen und ihren Familien sowie die Querverbindungen, die sich daraus ergaben, wurden zu einer wichtigen Quelle seiner Arbeit und ermöglichten es ihm, auch in seinen publizierten Darstellungen immer nah an den Menschen und ihrem Schicksal zu bleiben.

Schneeberger war ein Autodidakt, der sich der Heimat- und Familienforschung mit hoher Kompetenz und akribischer wissenschaftlicher Arbeitsweise gewidmet hat – durchaus keine Selbstverständlichkeit. Und er sah, ebenfalls nicht selbstverständlich, bei aller Bedeutung der aktuellen Erinnerungskultur, den gesamten Zeitraum der jüdischen Geschichte, nicht nur die Zeit der Verfolgung unter der NS-Herrschaft. Seine Fähigkeiten zum Quellenstudium und seine profunden Kenntnisse der jüdischen Religion und Kultur ließen ihn zum gefragten Experten und überdies Referenten für eine Vielzahl von Veranstaltungen werden. Und doch hatte er – vermutlich aus leidvoller Erfahrung – Respekt, wenn nicht Angst vor akademisch gebildeten Historikern und hielt sich zu ihnen meist auf Distanz. Erst heute beginnen deren Vertreter zu begreifen, wie innovativ Schneebergers Form der Erinnerung an die Menschen war, die vertrieben und ermordet wurden.

Eine gesicherte Existenz konnte Schneeberger sich mit seinen Arbeiten nicht aufbauen, wird verschiedentlich euphemistisch als "Lebenskünstler" bezeichnet. Für ihn hatte seine Selbstverpflichtung oberste Priorität. So war es eine Genugtuung und Anerkennung, dass er wenigstens für etwa zehn Jahre ab 2002 einen Arbeitsvertrag durch das Ephraim-Gustav-Hoenlein-Genealogie-Projekt der Ronald S. Lauder-Foundation erlangen konnte.

Abgesehen von den über seine Heimatregion hinaus weisenden genealogischen Forschungen, für die er Archive im In- und Ausland besuchte, konzentrierte er seine Forschungen vor allem auf Kitzingen und sein Umland. Der jüdische Gebietsfriedhof in Rödelsee, dessen Verfall er hautnah miterleben musste, war ihm dabei ein zentrales Anliegen. Denn auch hier ließen sich die Spuren der jüdischen Menschen aus Kitzingen und der Region auffinden.

Zusammen mit dem Fotografen Christian Reuther führte er ein herausragendes, deutschlandweit wahrgenommenes historisch-künstlerisches Projekt durch: bei Nacht und im Scheinwerferlicht aufgenommene Großfotografien einiger, z.T. bereits stark verwitterter oder zerstörter Grabsteine wurden der Geschichte der dort bestatteten Personen und ihrer Familien gegenüber gestellt. Die Ausstellung war seit 1993 u.a. in Berlin und in Kassel zu sehen, ein Katalog erschien.

Dieses Projekt reihte sich ein in Schneebergers Hauptthema der Erinnerung an die jüdischen Familien in Kitzingen. Hierfür stellte er 1996 eine erste Fassung eines Memorbuchs her, dessen Endfassung schließlich 2011 in Kooperation mit weiteren Autoren parallel in deutscher und in englischer Sprache im Druck erschien. Es reicht weit über das hinaus, was andernorts unter diesem Titel vorgelegt wird, denn es umfasst nicht nur Biographien der Ermordeten, sondern auch solche aller anderen in Kitzingen geborenen oder ansässigen Familien, einschließlich der Personen, die die Lager überlebten, und derjenigen, denen die Flucht gelang. Wertvoll ist es auch deshalb, weil so viele persönliche Zeugnisse in dieses Buch eingeflossen sind.

Die jüdischen Landgemeinden in Bayern stellen schließlich seinen dritten Arbeitsschwerpunkt dar. Seit 2002 veröffentlichte er in der Zeitschrift des Landesverbands "Jüdisches Leben in Bayern" eine Serie dazu: In fast jedem Heft sind seitdem insgesamt 37 Artikel zu je einer oder mehreren Landgemeinden in Bayern erschienen, deren Quellen ausführlich nachgewiesen sind. Es wäre so gut gewesen, wenn Michael Schneeberger noch die Lebenszeit vergönnt gewesen wäre, auch hier weiter zu machen. Daneben erschienen einzelne weitere Aufsätze von ihm zu Familien und Gemeinden in Obernbreit, Marktbreit, Heidingsfeld und Obernzenn.

Das breite Wissen von Michael Schneeberger können wir nun nicht mehr befragen. Doch er hat die Ergebnisse seiner Recherchen akribisch aufgezeichnet und abgeheftet. Diese Sammlung wird nun unsere Fragen beantworten müssen – und sie bleibt der (Heimat-)Forschung weiter zugänglich. Denn Schneeberger hat diese Sammlung der Jüdischen Gemeinde in Würzburg hinterlassen, die sich unter Zustimmung der Familie entschieden hat, sie mit wenigen Ausnahmen dem Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken im gleichen Gebäude zu stiften. Dort wird sie vorbehaltlich der Zustimmung des Bezirksausschusses in die Sammlung des Zentrums aufgenommen, erschlossen und kann eines Tages gezielt genutzt werden.  

Eine erste grobe Verzeichnung der Bestände wird sobald wie möglich auf der Homepage des Zentrums eingestellt. Daraus wird auch ihr großer Wert ersichtlich werden, denn vieles von dem, was Schneeberger erarbeitete, blieb ungedruckt: vor allem Findbücher zu den Quellen einzelner Gemeinden, darunter alle aus dem ehemaligen Rabbinat Kitzingen, oder die mehr als 30 umfangreichen Familiendokumentationen sowie seine Vorträge.

Am 13. Oktober 2014 hat Michael Schneeberger den Kampf gegen die vielen Krankheiten seines Körpers verloren. Zwei Tage später wurde er auf dem Jüdischen Friedhof in Würzburg begraben. So richtig wird manchen erst jetzt bewusst, was sie an ihm hatten – und was sie verloren haben.

 

Quelle: Rotraud Ries